Moravagine ist ein faszinierend beunruhigendes Werk und
führt ins Zentrum der künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Aber
Moravagine ist auch immer noch, 100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, ein
eher verborgenes Buch. Dieser Krieg ist noch nicht vorbei, als 1917
Cendrars in einem Brief an Jean Cocteau seinen Plan annonciert: »Ich
sage Dir, ein Monster...« Und was zeitgemäß »Das Ende der Welt« heißen
sollte, erscheint endlich 1926 als Moravagine: Es ist der Name eines
Amokläufers, eines Triebwesens, in dessen Name sich der Tod (la mort)
und das Gebärende (le vagin) zwittrig vereinen. Moravagine, mehr
Phänomen denn Person, ist ein Nomade seiner Wunschtriebe, eine Figur des
Bösen, die die Ausschweifungen des Wahnsinns lebt, ein an der
Sinnlosigkeit Verzweifelnder. Moravagine, so heißt der ungarische
Adlige, der mit Unterstützung eines Arztes, des Erzählers Raymond, das
Sanatorium Waldensee verlässt und mit ihm auf eine zehnjährige Reise
geht: über Berlin in den russischen Revolutionsterrorismus, mit dem
Schiff nach New York und weiter auf Goldsuche bis zu den Indianern ,
eine Flucht zum südamerikanischen Orinoko und zurück nach Paris, zu
einem Flug um die Welt und in den Morphinismus.
Mittwoch, 16. Juli 2014
Das Paradies in Bibel und Bildender Kunst
Kessler, Rainer; Schwebel, Horst (Hg.) (2014): Das Paradies in Bibel und bildender Kunst. Marburg: Blaues Schloss (Theologie im Paradies, Band 2+3).
Die Veranstaltungsreihe heißt „Theologie im Paradies“ und findet in einem alten Klostergarten statt.
Der Beitrag von Rainer Kessler zum Paradies in der biblischen Tradition umfasst drei Teile. Der erste Teil erläutert den Hintergrund der Vorstellung vom Paradiesgarten. Er liegt in den Gartenanlagen der altorientalischen Könige, die mit exotischen Bäumen bepflanzt, bewässert und eingefriedet sind. Im Hauptteil des Vortrags wird die Paradiesvorstellung aus dem 1. Mosebuch behandelt. Dieses Paradies ist ein mythischer Ort, der gleichwohl der irdischen Geographie zugehört. Der dritte Teil erläutert, wie daraus das Paradies als Ort im Jenseits wurde, dem als Gegenort die Hölle entspricht. Nach christlicher Tradition ist es Christus, der das einst unzugängliche Paradies wieder aufgeschlossen hat.
Horst Schwebels Beitrag präsentiert ein Bild von Jirí Kolár. Beim Bild handelte es sich um eine Collagenarbeit, die den „Sündenfall“ von Hugo van der Goes zum Ausgangspunkt nahm. Während van der Goes den Mythos als Beginn eines Verhängnisses deutete, kommt es bei Kolárs „Sündenfall“ zu einem guten Ausgang.
Sonntag, 13. Juli 2014
Das Kompendium der Geheimhaltung und Täuschung
Das Kompendium der Geheimhaltung und Täuschung, der Lüge und des Betrugs, des Verrats und der Verstellungskunst (2014). Unter Mitarbeit von Marc Schweska. 1. Aufl., neue Ausg. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 354).
»Es gibt fünf Arten von Spionen: der ortsansässige Spion, der innere Spion, der Gegenspion, der tote Spion und der lebendige Spion. Wenn alle diese fünf Arten von Spionen in Aktion treten, weiß niemand um ihre Wege – dies nennt man organisatorisches Genie.« (Sunzi, ca. 500 v. Chr.) Nur dunkel scheint das Thema der Täuschung. Wer täuscht, der handelt im Geheimen und unmoralisch, der verstört mit Lüge, Verrat und Betrug seine Opfer. Die Erkenntnis, getäuscht worden zu sein, kann das Vertrauen in die Welt aufs Schwerste erschüttern. Heiter wird die Täuschung aber in der Verstellungskunst, in den Erzählungen von der Listigkeit, die kraftvoll und klug die verwickelten Lebensschwierigkeiten mit Täuschungen elegant und mit Witz überwindet. Dieses Kompendium versammelt klassische und weniger berühmte und bekannte Texte, die Täuschung zumeist in ihrer drastischen Dimension behandeln. Die Texte stammen aus der griechischen und römischen Antike: Homer, Hesiod, Heraklit, Sophokles, Platon und Aristoteles gehören dazu wie Seneca, Plutarch, Tacitus und Lucian und viele andere. Augustinus oder Dante, Boccaccio und Machiavelli fehlen natürlich genauso wenig wie Erasmus von Rotterdam, Montaigne, Baltasar Gracian oder Pascal; dazu die Reflexionen der Moralistik. Kant und Schopenhauer oder Nietzsche sind vertreten, ebenso natürlich die legendären »Trickster«-Figuren wie Odysseus, Sisyphos und Till Eulenspiegel. Nicht vergessen sind wichtige außereuropäische Texte wie Sunzis Schrift über Kriegskunst und das altindische Politik-Lehrbuch Arthasastra. Natürlich findet sich das Thema in der großen Literatur, bei Voltaire, Diderot , Goethe oder Schiller und in der gesamten klassischen und romantischen Literatur; Hermann Melville oder Jorge Luis Borges gehören in unsere Sammlung, die Sentenzen und Aphorismen vieler Autoren – bis in die Gegenwart. Das dürfen Sie von einem Kompendium (wenn auch ohne Anspruch auf Vollzähligkeit, das wäre eine Täuschung) erwarten. Und: Nicht zuletzt gibt es Texte, die auch die gebildeten Freunde der Anderen Bibliothek noch überraschen können.
Zwischen den Zeiten
Fois, Marcello (2014): Zwischen den Zeiten. Unter Mitarbeit von Monika Lustig. 1. Aufl., neue Ausg. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 353).
»Ja, er hatte bestens verstanden. Doch was er nicht wissen konnte – und es war auch nicht nötig, ihm das zu erklären – war die Tatsache, dass der Name Vicenzo und der Familienname Chironi zum allerersten Mal in einem Atemzug aus dem Mund ihres Trägers gekommen waren.« Sardinien im Oktober 1943. Vincenzo Chironi lebt Zwischen den Zeiten: Er ist auf der Suche nach seiner Vergangenheit und einer Zukunft. Aufgewachsen ist er in einem Waisenhaus in Triest. Viele Jahre war er der Sohn von niemand. Nun hat er wieder einen Namen und ist auf dem beschwerlichen Weg nach Núoro, zu seiner Vaterfamilie, in seine sardische Heimat – die für ihn noch keine ist. Im Haus der Chironi leben noch der Großvater, der ehemalige Meisterschmied Michele Angelo, dem nach allen Tragödien nur die Tochter geblieben ist. Alles wirkt wie eine Wiedergutmachung, schicksalhaftes Wunder in diesem fluchhaften Familienepos: Der Neffe ist zurückgekehrt. Er wird in einem Sardinien, wo alles Archaische der Insel den neuen bürgerlichen Zeiten begegnet, die Geschichte des Geschlechts der Chironi weiterschreiben können.
Ewiger Sabbat
Kanovič, Grigorij; Ahrndt, Waltraud (2014): Ewiger Sabbat. Orig.-Ausg., limitiert und nummeriert. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 351).
»Ich bin kein jüdischer Schriftsteller, weil ich russisch schreibe, kein russischer Schriftsteller weil ich über Juden schreibe, und kein litauischer Schriftsteller, weil ich nicht litauisch schreibe.« Grigori Kanowitsch (Grigorijus Kanovicius) ist ein Autor zwischen den Sprachen: In Litauen geboren, ist das Jiddische seine Schtetl-Muttersprache. Das Russische eignete er sich als Dreizehnjähriger an, dem Genozid entkommen nach Kasachstan. In seinem literarischen Werk, übersetzt in zwölf Sprachen, vergegenwärtigt er immer wieder das litauische jüdische Leben. Es ist sein Lebensthema. Es nährt das Kolorit seiner Prosa, ihren Klang und Ihre Gestimmtheit zwischen bitterer Ausweglosigkeit und unerschöpflichem Lebensglauben, zwischen skurrilem Witz und heiterer Melancholie: »Jetzt habe ich begriffen. Der Tod ist ein Feiertag. Das Ende der Arbeit. Der Tod ist ein ewiger Sabbat.« Swetschi na wetru/Kerzen im Wind (1979) hieß Grigori Kanowitschs erster Roman, der nun unter dem Titel Ewiger Sabbat wiederzuentdecken ist. Anfang der 30er-Jahre – in einem kleinen Dorf bei Vilnius lebt Daniel zunächst bei Großvater, dem Uhrmacher, und Großmutter, der Vater sitzt wegen politischer Umtriebe im Gefängnis. In einen Vogel möchte sich dieser träumende Junge verwandeln: Dann flöge er über Synagogendiener Chaim hinweg, über Fleischermeister Hillels Laden, die Frisierstube von Aaron Damski, den ersten Lehrherrn, sähe den Hochzeitsmusikanten Leiser und Doktor Gutman, und alle die Bewohner dieses Fleckens aus der Ferne. Vor allem bräuchte er nicht länger auf dem jüdischen Friedhof mit all den Krähen und beim einbeinigen Totengräber Josef zu wohnen – er sähe die Welt. Daniel wird sie bald im Ghetto kennenlernen.
Das Museum von Eternas Roman.
Fernández, Macedonio (2014): Das Museum von Eternas Roman. Der erste gute Roman. 1., neue Ausg. Berlin: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 350).
Das Buch ist als Roman seiner Zeit voraus. In den 1930er- und 40er Jahren geschrieben – der Blütezeit der argentinischen Literatur – ist Das Museum in vielerlei Hinsicht ein »Anti-Roman«: Er beginnt mit über 50 Vorworten – einschließlich derer, die sich an »die Kritiker« und die »Leser, die verrückt werden, weil sie nicht wissen, was der Inhalt dieses Romans ist« wenden. Philosophisch, zweiflerisch, herausfordernd, unterhaltsam und in Kontakt mit dem Leser tretend – Fernández Vorstellung von einem guten Roman bezieht den Leser als Kunstfigur mit ein – machen die Vorworte klar: Es ist ein Roman, der nicht beginnen möchte – schließlich liegt im Beginn das Ende… Die zweite Hälfte des Buches besteht aus dem »Roman« selber. Die reizende Protagonistin Eterna, in deren Macht es steht die Vergangenheit zu verändern und eine Handvoll weiterer Charaktere leben auf einer Ranch namens »Der Roman« und werden von der Frage, wie wir trotz der Gewissheit unserer Sterblichkeit lieben können, bewegt. Wo Liebe ist, ist kein Tod, nur Vergessen… Eine großartige literarische Entdeckung, ein virtuoses Spiel mit Zeit und Raum, ein oft bewegendes Buch, welches die Grenzen des Genres neu definiert: der Roman hatte in Südamerika einen großen Einfluss auf Autoren wie Jorge Luis Borges, Julio Cortàzar und Ricardo Piglia, die von Fernàndez Charme und seinem Konzept begeistert waren. Nun kann auch der deutsche Leser diesen großen argentinischen Autor und sein Werk entdecken. Neben dem Museum als Ersten guten Roman steht Adriana Buenos Aires, den Fernández zum Letzten schlechten Roman deklarierte.
Die Nacht von Salvador
Martin, Marko (2013): Die Nacht von San Salvador. Ein Fahrtenbuch: AB - Die Andere Bibliothek (Die Andere Bibliothek, 345).
Gibt es in unserer schnellen, vernetzten Welt noch Abenteuer zu erleben – und zu bestehen? Käme darauf an, wie man vernetzt definiert. Dieses Fahrtenbuch erzählt von jener »Menschenfischerei«, die immer dann möglich ist, wenn erotische Begegnungen zum Tür-Öffner werden. Plötzlich – mitunter schon in den Geständnissen einer einzigen Nacht - tun sich Welten auf, die ansonsten verborgen bleiben: Die düsteren Geheimnisse einer lateinamerikanischen Oberschichtfamilie, die Lüste und Ängste einer syrischen jeunesse dorée im Schatten der Assad-Diktatur, die Geschehnisse vor und nach der Niederschlagung der birmesischen Mönchsproteste, die multiplen Identitäten südafrikanischer Farbiger oder israelischer Araber, die Traumatisierungen eines jungen laotischen Lager-Überlebenden, erzählt in einer Nacht in Madrid … verkürzt gesagt: Eine kleine Enzyklopädie der sexuellen Sitten und Gebräuche, der »moeurs« unserer Zeit, die nie im luftleeren Raum existieren, sondern erst durch die Schraffierung des politischen Hintergrunds an Kontur gewinnen – siehe Damaskus, Laos und Nicaragua, Danzig, Kapstadt oder Tel Aviv und eben San Salvador. Der häufige Perspektivwechsel und die Reflexion der Handlung in Kommentaren und Rückblenden ist dabei ein Antidot zur auftrumpfenden Schnurre, welche letzten Endes den Leser ausschließen würde. Auch stilistisch: Der heiter-ironische Konversationston der Zwischen-Dialoge ist bewusst gewählt als Ergänzung zur komplexen Sprache der Geschichten. Darüber hinaus erzählen vor allem diese Dialoge von einer „Liebesgeschichte in progress“, in der sich ein Paar der Liebes- und Lebensmöglichkeiten jenseits einer traditionellen Monogamie versichert. Man kann das Fahrtenbuch als Entwicklungsroman in Episoden lesen: Am Ende steht nicht nur die verteidigte Liebe, sondern auch die melancholische Einsicht in das eigene Älterwerden und der Abschied von juvenilem Entdecker-Muwillen. Auch politische Umbrüche bekommen deshalb in der Wahrnehmung einer Zeitachse eine existentielle Dimension. Was daraus folgt ist ein heiteres Loslassen-Können, vor allem aber eine auf Fortdauer bauende Liebe, die sich nicht selbst betrügt. So kommen am Schluss die Melancholiker ebenso zu ihrem Recht wie die Optimisten, die politisch wie auch die erotisch Neugierigen – und, last but not least – die Bücher verschlingenden Romantiker ebenso wie die erlebnishungrigen Welt- und Körper-Vagabunden.
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