Dücker, Burckhard; Röske, Thomas; Vögele, Wolfgang (Hg.) (2016): Zwischen Schloss und Irrenhaus. Die Aufzeichnungen Hermann Paternas entschlüsselt und kontextualisiert von einer studentischen Arbeitsgruppe. Prinzhorn-Sammlung. Heidelberg.
Als Gegenpol zum akademisch gebildeten Avantgarde-Künstler Paul
Goesch widmet die Sammlung Prinzhorn eines ihrer Kabinette dem
Schneidergesellen Hermann Paterna (1870-1913). Im Mittelpunkt des
studentischen Ausstellungsprojekts „Zwischen Schloss und Irrenhaus – Die
Aufzeichnungen Hermann Paternas“ steht das Notizheft des Gesellen aus
seiner Zeit in der Heidelberger Psychiatrischen Klinik 1906, das vier
Promovendinnen unter der Leitung von Prof. Dr. Burkhardt Dücker und PD
Dr. Wolfgang Vögele transkribiert und kulturhistorisch eingeordnet
haben. Die kleine Schau wirft damit ein Schlaglicht auf die kreative
Hinterlassenschaft eines Handwerkers, den es an den Rand der
Gesellschaft verschlagen hatte.Paterna nutze sein Notizbuch vielseitig: Er notierte, skizzierte oder
kritzelte verschiedenste Lieder, Briefe, Lebensläufe, Risszeichnungen
und Bilder. Dieses schwer entzifferbaren Sammelsuriums, das in der
Sammlung Prinzhorn aufbewahrt wird, nahm sich seit 2014 eine
Arbeitsgruppe an der Heidelberger Graduiertenschule für Geistes- und
Sozialwissenschaften an. Die studentische Gruppe verortete Paternas Schicksal zum einen mit
Hilfe historischer Quellen über das Dasein von Handwerkern um 1900. Sie
verglich seine autobiographischen Aufzeichnungen, die viel über das
Wanderleben des Gesellen mitteilen, mit damals üblichen Lebensläufen.
Außerdem wertete sie die zahlreich notierten Liedtexte daraufhin aus,
was sie über die Schulbildung und die Geselligkeit Paternas, aber auch
über seine Kreativität verraten. Denn den Liedtexten fügte er immer
wieder eigene Zeilen hinzu.Daneben untersuchten die vier Teilnehmerinnen aber auch die
Krankenakte Paternas und verglichen die festgehaltenen biographischen
Daten mit fiktiven Momenten in den autobiographischen Texten. Grund
hierfür ist, dass der Geselle der festen Überzeugung war, von adeliger
Abstammung zu sein, und glaubte, er sei als Kind von Zigeunern
verschleppt worden. Schließlich wurde auch das Verhältnis von Bild und
Text im Notizbuch untersucht. Denn neben berufsspezifischen Skizzen für
Kleidung finden sich teilweise sehr fantasievolle Bildschöpfungen, die
geradezu surrealistische Qualitäten entfalten.Ein Gefühl dafür, welcher Aufgabe sich die Studentinnen beim
Entziffern und Transkribieren des Notizheftes in die heute gängige
Lateinschrift stellten, kann man beim Besuchs des Kabinetts ebenfalls
bekommen: Auf einem Pult liegen Kopien der Notizheft-Seiten sowie eine
Alphabet der Kurrentschrift. Jeder darf sich dort gerne selbst an die
Arbeit machen und die Handschrift Paternas entschlüsseln. Außerdem
möchte die Arbeitsgruppe die Besucher zum Nachdenken darüber anregen,
welche Parallelbiografie sie für sich selbst erfinden möchten. Ideen
dazu können auf bereitliegenden Zetteln notiert und auf der Pinnwand
hinterlassen werden.